Der Roman

Der Roman "Die geheimnisvolle Fremde"

Martin Schemm: Die geheimnisvolle Fremde. Ein historischer Roman aus Harsefeld. Edition Falkenberg. Bremen 2025. 224 Seiten. Taschenbuch [ISBN: 9783954942398; Preis: 14,90 Euro]

Worum geht es in dem historischen Roman, der einen (fiktiven) Kriminalfall erzählt?
Das niedersächsische Dorf Harsefeld im Mai 1799: Der junge Amtsschreiber Heinrich Eckhoff findet im Tal der Aue eine bewusstlose, völlig abgemagerte und leichenblasse junge Frau. Er bringt sie ins Haus der Witwe Gaedtke und ihrer beiden Töchter, in dem er ein Zimmer zur Miete hat. Schnell zeigt sich, dass die Fremde weder ihren Namen noch ihre Herkunft kennt – eine Art "weiblicher Kaspar Hauser". Während sich Heinrich und die ältere Gaedtke-Tochter Leonore um die verlorene Seele kümmern und ihr Schicksal aufzuklären versuchen, wird im Dorf abergläubisch gemunkelt, die Fremde sei vielleicht eine Untote. Als es eines Tages zu einem Attentatsversuch auf die junge Frau kommt und kurz darauf zwei Menschen in Harsefeld ermordet werden, gilt es, das Rätsel um die geheimnisvolle Fremde schnellstmöglich zu lösen ...

Das außergewöhnliche Schicksal des Kaspar Hauser (1812-1833) war eine der Inspirationen zu diesem historischen Roman. Das Rätsel um einen Menschen, dessen Herkunft und Identität im Dunkeln liegen, ist ein Faszinosum für unseren stets auf Klarheit und Verortung bedachten Verstand. Das Verborgene, Rätselhafte verlangt nach Aufklärung und fordert uns heraus – nicht erst seit der medialen Aufmerksamkeit rund um 'True Crime'. Solche mysteriösen Fälle haben das Potential, unser Kernbedürfnis nach Nämlichkeit und Einordnung nachhaltig zu stören. Der vorliegende, fiktive Fall um die Hauptfigur des Romans spielt in der Zeit der Aufklärung, also an der Schwelle vom mittelalterlichen Aberglauben hin zu rationalem Denken. Damals glaubte man – insbesondere auf dem Lande – durchaus noch an übernatürliche Ursachen, wenn sich Dinge nicht erklären ließen. Wiedergänger und Untote waren häufig Bestandteil des Denkens. Tatsächlich gab es gerade im niedersächsischen Harsefeld eine alte Tradition solchen Aberglaubens, was mit ein Grund für die Wahl des Schauplatzes war. Denn archäologische Untersuchungen belegen, dass in Harsefeld Tote oftmals in ihren Gräbern mit Steinen beschwert oder gefesselt wurden, um sie an einem späteren Wiedergehen zu hindern. Harsefeld im Jahr 1799 war/ist insofern ein perfekter Schauplatz für diesen Roman.

Stimmen zum Buch

ARDEIJA - Streifzüge durch die Welt der Bücher (Rezension von Maike Claußnitzer, November 2025)

"Martin Schemms neuester historischer Roman Die geheimnisvolle Fremde ist von dem bis heute ungeklärten und daher auch immer wieder zu Spekulationen anregenden Fall des Kaspar Hauser inspiriert. Anders als bei ihm lassen sich im Buch – so viel sei vorweggenommen, ohne schon etwas Entscheidendes zu verraten – die Hintergründe des unerwarteten Auftauchens der mysteriösen Frau jedoch aufklären, und den Ich-Erzähler Heinrich und die ihm schon nach kurzer Zeit alles andere als gleichgültige Leonore, genannt Lore, dabei zu begleiten, bleibt von Anfang bis Ende spannend.

Trotz der Krimielemente ist die Geschichte dabei nicht im Stil eines typischen Whodunnit zum Miträtseln aufgebaut. Obwohl der Roman geradlinig erzählt und flott zu lesen ist, kann man die Auflösung nicht vorausahnen, schon gar nicht in allen Einzelheiten, nicht zuletzt deshalb, weil es sich bei dem hauptsächlichen „Detektiv“ Heinrich um einen Zugezogenen handelt, der noch dazu als etwas Bessergestellter nicht am Tratsch der Dorfbevölkerung teilnimmt und deshalb von einem Vorfall, der sich Jahre zuvor in Harsefeld herumgesprochen haben muss und der entscheidend ist, um das Schicksal der Fremden zu verstehen, schlicht zunächst nichts wissen kann.

Ohnehin ist die gelungene Schilderung des Lebens auf dem Lande kurz vor Beginn des 19. Jahrhunderts ein Hauptreiz des Romans. Ob nun die Dorfgesellschaft vom Gesinde über die Bauern und Honoratioren bis hin zum niederen Adel, die Landschaft mit ihren Wäldern, Mooren und Feldern oder der Zusammenhalt angesichts einer jähen Katastrophe, alles wird lebendig heraufbeschworen, und die Vergangenheit ist immer präsent, ob nun in der Rückbesinnung auf den Dreißigjährigen Krieg als Zeit unfassbarer Gewalt oder in den allgegenwärtigen prähistorischen Hügelgräbern (die nicht nur für Atmosphäre sorgen, sondern auch schon einmal einen ganz praktischen Zweck als Deckung bei einer riskanten Verfolgungsjagd erfüllen dürfen).

Deutlich wird immer wieder auch, dass trotz des gewissen Maßes an Bildung, das im Zuge der Aufklärung auch für die Ärmeren zugänglich geworden ist (zum Bibellesen reicht es immerhin, auch unter schwierigsten Verhältnissen), Aberglaube und Ängste vor dem Übernatürlichen noch keineswegs verschwunden sind. Hier bedauert man manchmal fast, dass Martin Schemm sich diesmal – anders als etwa bei seinen früheren Büchern Die Feuertore und Tod im Mariendom – auf einen rein realistischen historischen Roman beschränkt hat, denn einige Details, wie etwa der angebliche heidnische Fluch, der auf dem Ort ruhen soll, hätten sich bei seinem Talent für Phantastisches sicher großartig ausarbeiten lassen, wenn sie mehr als nur Gerüchte wären.

Aber Schemm beweist, dass sein Sinn für das Unheimliche auch dann für packende Lektüre sorgt, wenn die Ursachen des Bösen, das in eine vordergründig friedliche Welt eindringt, ganz irdisch sind. Sympathisch ist wie immer, dass der Autor, obwohl es durchaus einige dramatische und bedrohliche Situationen gibt, keine typischen Kämpferhelden, sondern einen Schreiber und eine ehemalige Hauslehrerin ermitteln lässt und – neben dem klassischen literarischen Motiv eines besonderen angeborenen Merkmals als Erkennungszeichen – vor allem gute Recherchefähigkeiten zum Erfolg führen. Die sanfte und dank humorvoller Frotzeleien auch sehr amüsant zu lesende Liebesgeschichte zwischen Heinrich und Lore bildet dabei einen angenehmen Kontrapunkt zu den entsetzlichen Ereignissen, die beide zusammenfinden lassen. Wer Spaß an historischen Romanen allgemein oder speziell an Regionalgeschichte hat, wird daher auch viel Freude an der Geheimnisvollen Fremden haben."