Interview beim Hamburger Lokalradio
(19. September 2010, Sendung "Jazz und Literatur", Moderatorin: Gaby Helbig)
Hamburger Lokalradio

[Nachstehend sind Auszüge des ausführlichen Interviews wiedergegeben. Das Live-Gespräch dauerte insgesamt fast eine ganze Stunde und wurde hier und da durch eingespielte Jazz-Titel aufgelockert.]

HELBIG: Der Hamburger Historiker Martin Schemm ist heute bei uns zu Gast. Hallo erst einmal! Sie haben ein Buch geschrieben, ein neues: Der Goldschatz der Elbberge. Im Zentrum steht der Hamburger Süllberg. Wie kamen Sie zu diesem Thema und worum geht’s?

SCHEMM: Der Goldschatz der Elbberge ist ein historisch-fantastischer Roman, der im Hamburg des 11. Jahrhun- derts spielt bzw. im Umfeld Hamburgs und auch viele lokale Sagen und Legenden aufgenommen hat. Kurz gesagt die Handlung: Der Süllberg und Blankenese im 11. Jahrhundert – es leben einfache Fischer ein armes, einfaches Leben und oben auf dem Süllberg gibt es ein kleines Kloster und eine kleine Burg. In diese Welt kommt im Sommer 1065 etwas Unruhe, denn da erscheinen plötzlich einige Fremde in der Gegend und scheinen etwas zu suchen …

HELBIG: Es sind zwei verschiedenartige Quellen, einmal die fantastische und einmal die – sagen wir mal – reale, was dieses Buch eben auch besonders macht …

SCHEMM: Es war mein Ziel bei diesem Roman, Historisches mit Sagenhaftem zu vermengen, um auf diesem Weg zu zeigen, wie vielschichtig der Kulturraum ist, und den Leuten auch ein Stück Heimatkunde zu liefern. Ich habe lange recherchiert – ich glaube, es hat ein halbes Jahr gedauert, bis ich das Thema überhaupt hatte. Der Anspruch war, historisch weiter zurückzugehen als bis zur Hansezeit oder Störtebeker. Nach langer Suche in den Quellen habe ich dann eben die Figur Erzbischof Adalberts im 11. Jahrhundert gefunden, seine Zeit. Und auf der anderen Seite die alten Sagen und Legenden - das ließ sich dann sehr gut kombinieren.

HELBIG: Sie sind also in Archive gegangen? Sind Sie auch an Ort und Stelle gewesen, am Süllberg, haben sich Häuser angeschaut und haben sich vorgestellt, wie das früher war im 11. Jahrhundert?

SCHEMM: Ja, ich war sehr oft vor Ort. Das Ganze spielt ja auch nicht nur am Süllberg, sondern auch an den anderen Bergen: Polterberg, Tafelberg - die gibt es auch heute noch. Da bin ich dann durch die Täler geschlichen und habe versucht, mir auszumalen, wie das damals ausgesehen hat. Was die Quellenarbeit angeht, war ich oft in der Staatsbibliothek und habe dann sehr oft auch lateinische Quellen mit Wörterbuch – wie ich das früher in meinem Studium gelernt habe – übersetzt, um zu verstehen, was da wirklich drin steht.

HELBIG: Es wird am Anfang des Buches ein Mönch beschrieben, der in dem Kloster auf dem Süllberg eine Abschrift macht und dabei auch selbst verfasste Texte einfließen lässt. Das ist natürlich ein schwieriges Thema für den Historiker, das dann später zu unterscheiden. Wahrscheinlich ist das teilweise auch gar nicht möglich?

SCHEMM: Ja, das ist eigentlich eines der Hauptprobleme, wenn man mittelalterliche Quellen hat. Je näher man in die Neuzeit kommt, desto vertrauenswürdiger werden die Quellen. Je weiter man zurückgeht, desto fragwürdiger zum Teil, denn in die Quellen wurde oft auch politisch das geschrieben, was man gerne darin lesen wollte. Die Hamburgische Kirchengeschichte, die sozusagen das Rückgrat des Romans bildet, historisch gesehen, gilt als eine großartige Biografie des Erzbischofs Adalbert, ziemlich einmalig. Aber auch da gibt es manche Passagen, die politisch eindeutig gefärbt sind, wo er zum Beispiel in einem wesentlich besseren Licht dargestellt wird als in anderen zeitgenössischen Quellen. Es ist einfach so, dass man seinem Bischof eine schönere Biografie verfasste, als das objektiv andere zeitgenössische Autoren gemacht haben. Das muss man bei der Recherche zu so einem Buch immer berücksichtigen. Da muss man die Dinge immer wieder in Frage stellen. Am besten man nimmt, wenn man sie denn hat, zwei oder drei Quellen und wägt sie gegeneinander ab und entscheidet sich dann für eine wahrscheinliche Wahrheit.

HELBIG: Das heißt, man hat dann die drei oder vier Quellen gefunden. Und wenn es noch mehr gibt? Wie kommt man an diese heran?

SCHEMM: Mehr als die gibt es eigentlich nicht. Es ist so, dass das, was an mittelalterlichen Quellen vorhanden ist, schon lange ziemlich gut erschlossen ist. Man hat zum Beispiel Urkunden. Auch beim Goldschatz der Elbberge gibt es tatsächlich eine Urkunde aus dem Jahr 1059, wo auch das Kloster erwähnt wird, das auf dem Süllberg war, dass dort sogar Reliquien waren vom Apostel Jakobus und anderen Märtyrern. Das ist sozusagen die Urkundenüberlieferung. Dann gibt es die Geschichtsquellen wie Adam von Bremen oder andere Chroniken. Diese Menge ist aber begrenzt – Sie werden nicht darüber hinaus durch noch mehr Stöbern irgendetwas Neues finden. Die Menge der mittelalterlichen Quellen ist begrenzt und bekannt – es geht nur darum, sie miteinander in Kombination zu bringen und Schlüsse daraus zu ziehen mit der eigenen Fragestellung, die dem Roman zugrunde liegt. Neue Funde sind absolut selten – es ist alles vorhanden, Sie müssen es nur auf Ihre Weise deuten.

HELBIG: Das Buch hat den Untertitel „ein historisch-fantastischer Roman“. Das ist ja ein gewisser Widerspruch: historisch, fantastisch - was denn nun?

SCHEMM: Beides. Das ist gerade das Besondere an dem Roman. Von den Zielgruppen und den Gattungen her ist es in der Tat eigentlich ein Spagat, denn historische Romane sind wie Krimis eigentlich dem Realismus verpflichtet. Das heißt, da gibt es nichts Übernatürliches. In diesem Buch ist es natürlich so, da kommen Elemente hinein, die Sie normalerweise dann eben in der Fantasy hätten. Bei Fantasy wiederum haben Sie keine historischen Fakten. Das heißt, hier werden zwei Welten miteinander verschmolzen und es entsteht eben etwas Neues. Das ist das Besondere an dem Buch, dass man sich als Leser darauf einlassen muss, dass die Legenden und Sagen hier als Wirklichkeit geschildert werden und verbunden werden mit dem faktischen historischen Rahmen.

HELBIG: Ich habe festgestellt, dass das Buch auch sehr geeignet wäre für Jugendliche. Einerseits könnte es die Lesebereitschaft fördern, wenn es ein bisschen fantastisch ist, was ja sehr en vogue ist. Andererseits ist es vielleicht ein bisschen schwer zu unterscheiden: Was ist historisch, was fantastisch? Sehen Sie da ein Problem?

SCHEMM: Nein, das sehe ich eigentlich eher nicht. Ich denke, der Roman würde Jugendlichen ab 14 oder 15 einen sehr spannenden Zugang zu einer doch sonst als eher spröde belächelten Materie bieten: die eigene Geschichte, der eigene Kulturraum, in dem man lebt. Dass man eben mal einen anderen Blickwinkel hat und nicht nur diesen schnelllebigen heutigen Realismus und dieses Tempo, dem man ständig unterliegt. Sondern dass man als Jugendlicher auch mal in eine ganz andere Zeit eintaucht und begreift, dass die Welt oder die Örtlichkeit um einen herum wesentlich älter ist und auch voller Mythen und Geschichte.

HELBIG: Man könnte ja auch einen Schulausflug machen auf der Grundlage des Buches, eine Art Schnitzeljagd ...

SCHEMM: Könnte ich mir durchaus vorstellen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass man das in irgendeiner Form an den Schulen bearbeitet oder bespricht als Lektüre, weil man viel über die Geschichte lernen kann, auch über das Arbeiten eines Historikers – das wäre vielleicht etwas für den Geschichtsunterricht …

[Zuletzt aktualisiert im Oktober 2010]